Videospielpiraterie

Um über Piraterie zu diskutieren, muss mit dem grundsätzlichen Konzept von Eigentum gestartet werden.


Eigentum materieller Güter

(Privat-)Eigentum ist eine menschengemachte Idee. Es gibt keine “natürliche” Zuordnung von Objekten zu Personen, nur Menschen können diese Zuordnung erstellen und eine Gewalt beauftragen, diese Zuordnung zu respektieren (einen Staat, z.B.).

Materielle, anfassbare Güter, wie Essen, Behausung, Luxustaschen besitzen gewisse Funktionen, für welche sich diese Güter “im Eigentum”/”im Besitz” befinden müssen, um diese Funktion ausüben zu können. Diese Funktionen können vielfältig sein. Das Essen muss z.B. besessen werden, um sich davon ernähren zu können. Gestohlenes, nicht vorhandenes Essen kann hingegen nicht gegessen werden. Behausung muss besessen werden, um es vermieten zu können oder darin leben zu können. Je nach Person muss eine Luxustasche auch tatsächlich erworben worden sein, um sich von ihr erfüllt zu füllen - für manche reicht es auch, diese Tasche nur zu leihen.
Praktisch ist festzuhalten, dass materielle Güter Funktionen haben, die nur von einer Person (oder ggbf. einer Gruppe) ausgeführt werden können, die im Besitz dieses Guts ist. Zu den hier genannten Beispielsfunktionen lässt sich allerdings eine große Diskussion führen, ob diese tatsächlich das Eigentumskonzept benötigen: Essen kann auch geteilt werden, solang genug vorhanden ist; eine Behausung kann auch gemietet werden.
Eine, in der Marktwirtschaft elementare Funktion kann allerdings nie ohne ein Eigentumskonzept funktionieren: Der Tausch des materiellen Guts in Geld, also der Verkauf und die Kommerzialisierung des Guts. Nennen wir das die Kommerzialisierungsfunktion eines materiellen Guts. 1

Die Idee der unterschiedlichen Funktionen ist übrigens keine neue. Schon Karl Marx skizziert in Das Kapital, dass eine Ware Tauschwert sein kann (also mit der Ware die Kommerzialisierungsfunktion ausgeübt werden kann) oder eine Ware Gebrauchswert sein kann (die übrigen Funktionen).

Essen, Behausung und Luxustaschen können dementsprechend auch mit der Intention angefertigt und besessen werden, sie wieder zu verkaufen. Wenn aber Essen allen oder niemandem gehört (durch Fehlen eines Eigentumskonzeptes), dann gäbe es niemanden, der kaufen kann, oder niemanden, der verkaufen kann, und die Kommerzialisierungsfunktion kann nicht ausgeübt werden. Weiters gilt, auch das Geld als Tauschmittel muss sich im Eigentum einer Person befinden, denn Geld, das jedem oder niemandem gehört, ist kein Tauschmittel.

Generell gesprochen, braucht es in einer kapitalistischen Marktwirtschaft also ein Eigentumskonzept, mindestens wegen Geld als Tauschmittel. Damit ist jedes Eigentum, das man für irgendeine Funktion benutzt, die nichts mit der Wirtschaft zu tun haben muss, nichtsdestotrotz eine Art Geld(-wert) und hat quasi eine Kommerzialisierungsfunktion. Das ist offensichtlicherweise Geld, mit dem andere Güter ertauscht werden können, die zum Leben erforderlich sind.

Der Diebstahl materieller Güter greift damit zwei wichtige Arten von Funktionen materieller Güter an:

Einerseits die Funktionen, für die man das Gut eigentlich gekauft hat, die nichts mit der Wirtschaft zu tun haben müssen. Der bestohlenen Person stehen diese Funktionen damit nicht mehr offen, der stehlenden Person hingegen schon.
Andererseits die Funktion eines jeden materiellen Guts in der Marktwirtschaft, ein Geldwert, und damit ein Stellvertreter für andere begehrenswerte Güter zu sein. Auch hier gilt für die bestohlene und stehlende Person dasselbe wie zuvor.
Dieser Umstand, dass beide Arten von Funktionen angegriffen werden, führte sinnvollerweise dazu, den Diebstahl materieller Güter zu verurteilen und lässt sich recht einfach und überzeugend als Argument Pro-Eigentumskonzept verwenden.


Immaterielle Güter

Immaterielle Güter sind, anders als materielle Güter, etwas schwierig zu definieren. Beschäftigen wir uns nur mit kommerzialisierbaren immateriellen Gütern, wo das Urheberrecht gilt. Nach den Gesetzen zum Urheberrecht sind sog. Werke “eigentümliche geistige Schöpfungen”, die ein “wahrnehmbares Ergebnis eines Denkprozesses” sind. Das können Bücher, Texte, Kunst, Videospiele, Filme, Musik, etc. sein. Wichtig ist, dass nicht das Buch selbst als materielles Gut gemeint ist, sondern der Text und die kreative Schöpfung im Buch. Das Buch ist also sozusagen eine materieller Ausdruck des immateriellen Guts, später werde ich bei Videospielen der Einfachheit halber von “Kopien” sprechen. Gleichzeitig braucht es aber irgendeinen wahrnehmbaren materiellen Ausdruck, denn Ideen allein können nicht urheberrechtlich geschützt werden.
Hier kommt es dadurch zu einem sehr wesentlichen Unterschied zu materiellen Gütern: Die “klassische” Funktion des immateriellen Guts, der Konsum, kann ausgeübt werden, ohne dass das immaterielle Gut im Eigentum einer Person sein muss, da beliebig viele materielle Ausdrücke des Guts erschaffen werden können, ohne die anderen materiellen Ausdrücke zu beeinflussen. Oder, anders gesagt: Was in Buch A steht, kann in ein Buch B kopiert werden, ohne dass Buch A (und die Person, die Buch A benutzen/konsumieren möchte) in irgendeiner Weise in ihrer Funktionsausübung, also in ihrem Konsum, beeinträchtigt wird. Vorerst scheint es also, als könnte es der schöpfenden Person also theoretisch total egal sein, ob ihr erschaffenes Werk vervielfältigt wird.

Allerdings existieren durchaus noch u.a. zwei wichtige Funktionen, die nur durch ein Eigentumskonzept ausführbar sind:
Einerseits kann es beträchtliches soziales Prestige bringen, ein Werk geschaffen zu haben. Wenn also eine andere Person dieses Prestige stattdessen erhält, ist das unzufriedenstellend. Nennen wir das die Bekanntheitsfunktion.
Andererseits kann auch ein immaterielles Gut in einer Marktwirtschaft zu Geld werden und damit einen Geldwert besitzen, solange sich Kaufende finden lassen. Nennen wir das erneut die Kommerzialisierungsfunktion.
Beide Funktionen können auch miteinander auftreten: Die schaffende Person hat durch ein Werk ein Prestige erreicht, dass sich auch auf die Kommerzialisierungsfunktion ihrer anderen Werke positiv auswirkt.

Wird nun ein Werk unautorisiert vervielfältigt, so kann es zu Einbußen in diesen beiden Funktionen kommen und diese unautorisierte Vervielfältigung kann als Diebstahl betrachtet werden. Es besteht allerdings ein qualitativer Unterschied zwischen dem Diebstahlsbegriff bei immateriellen und materiellen Gütern: Die Funktionsarten, die das tatsächliche Besitzen eines Guts erfordern, können bei immateriellen Gütern nie gestohlen/eingebüßt werden. Der Konsum eines Buches oder eines Videospieles wird also nie in irgendeiner Weise beeinträchtigt, wenn andere dieses Buch oder Videospiel kopieren, ganz zum Unterschied zum Wegnehmen von Essen. Spezifisch die Bekanntheits- und Kommerzialisierungsfunktion werden aber von immateriellen und materiellen Gütern geteilt und können für einen Versuch der Definition von “Diebstahl immaterieller Güter” infrage kommen.

Besonders hervorzuheben ist noch, dass für die Kommerzialisierungsfunktion immaterieller Güter dasselbe gilt, wie für jene der materiellen Güter: Diese Funktion existiert nur durch den Geldwert jedes Eigentums, und damit nur durch die (kapitalistische) Marktwirtschaft, diese Funktion basiert also auf eine weiteres, sehr komplexes menschengemachtes Konzept (nämlich eine Wirtschaftsform) und ist keine “natürliche Wirklichkeit”, anders als die Funktion von Essen, gegessen werden zu können. Das macht es dementsprechend auch komplizierter, wie eine Beeinträchtigung der Kommerzialisierungsfunktion eigentlich zu bewerten ist. Bei natürlichen schaffenden Personen ist wahrscheinlich gegeben, dass die Kommerzialisierungsfunktion ihrer Werke ihr Leben absichert oder stark verbessert. Aber ist es für ein Unternehmen mit Milliardengewinnen und einer riesigen Käuferschaft ebenso relevant, wenn ihr Werk von einer winzigen Gruppe unautorisiert, ohne Kauf, konsumiert wird? Wie ist das Handeln dieser Gruppe dann zu urteilen?

Wie schon vorher erwähnt, wird der Diebstahl materieller Objekte verurteilt, weil u.a. drei Funktionen für die besitzende Person beeinträchtigt werden. Bei immateriellen Objekten gibt es hingegen die zwei präsentierten Funktionen, die bei Diebstahl beeinträchtigt werden können. Konkretisieren wir jetzt die Ausführungen, indem wir Videospielpiraterie auf beide Funktionen analysieren.


Anwendung der Analyse auf Videospiele

Bekanntheitsfunktion: Veränderungen am Originalvideospiel, oder das Nutzen von Assets des Originals sind bei der Piraterie nach ihrer Definition ausgeschlossen, darum geht es nicht. Mit der Popularitätsfunktion kann aber sehr gut begründet werden, warum Bootlegs verurteilbar sind, die schaffende Person immer gecredited werden sollte, man ein fremdes Werk nicht als sein eigenes ausgeben darf und warum es das Urheberrecht bzw. das Recht auf geistiges Eigentum überhaupt gibt. Wird durch das Vervielfältigen des Originals in irgendeiner Weise infragegestellt oder der Fakt beeinträchtigt, dass die schaffende Person es erschuf? Nicht wirklich. Hier wird gern sogar das Gegenteil argumentiert: Die Vervielfältigung des Originals sorge sogar dafür, dass das Werk, und damit gleichzeitig die schaffende Person, bekannt werde. Solange also die Kopie nicht derart verändert werde, dass die schaffende Person nicht klar wäre, ist eine Beeinträchtigung der Bekanntheitsfunktion eher schwerer zu argumentieren.

Kommerzialisierungsfunktion: Offensichtlicherweise fehlt durch die unautorisierte Vervielfältigung der Kauf und damit der Austausch von Geld. Hier kann man also durchaus von einem Diebstahl reden, der auch mit dem Diebstahl materieller Güter vergleichbar ist, insofern man sich wirklich nur auf diese Funktion beschränkt. Ebenso ist aber argumentierbar, dass eigentlich kein finanzieller Schaden entstand, wenn man doch nur eine Kopie konsumiere. Jedoch stimmt das nicht, denn jede Kopie ist grundsätzlich ein materieller Ausdruck, mit der die Kommerzialisierungsfunktion des immateriellen Guts ausgeübt werden kann. Eine konsumierte Kopie, die entgegen des Wunsches der schaffenden Person nicht kommerzialisiert wurde, stellt hiermit eine Beeinträchtigung der Kommerzialisierungsfunktion dar und kann daher, wie jede Beeinträchtigung einer Funktion, verurteilt werden. Auch das Argument, man hätte das Spiel sonst nicht konsumiert, ändert nichts an der Beeinträchtigung der Kommerzialisierungsfunktion. Allerhöchstens kann dieses Argument aber durchaus so verstanden werden, dass die Bekanntheitsfunktion so besser ausgeübt wird, aber das wurde oben schon besprochen.

Die Analyse ergab bisher, dass über die Bekanntheitsfunktion eine neutrale bis Pro-Piraterie- und über die Kommerzialisierungsfunktion eine Contra-Piraterie-Position eingenommen werden kann. Reflektieren wir nochmal, warum eine Beeinträchtigung der Kommerzialisierungsfunktion verurteilt wird, und ob es nicht doch Szenarien geben könnte, in welchen diese Beeinträchtigung insignifikant wäre und damit Piraterie kaum zu verurteilen wäre.

Ein*e Indie-Spiele-Entwickler*in muss uneingeschränkt die Kommerzialisierungsfunktion ausüben, um Geld zu generieren und damit weiterleben zu können. Gibt es auch nur eine kleine Gruppe, die eine unautorisierte Kopie des Spieles spielt, ist das eine starke Beeinträchtigung der Kommerzialisierungsfunktion mit möglichen starken Einschränkungen in Finanzen und Leben. Auch hier kann durch die Bekanntheitsfunktion eine positive Seite eingeführt werden, allerdings nutzt diese auch nichts, wenn der*die Entwickler*in durch Piraterie dazu gezwungen ist, die Spieleentwicklung aufzugeben, was ein realistischer Ausgang ist. Schlussendlich wird Brot nicht mit Bekanntheit erkauft.
Im Kontrast dazu wird ein Multimilliardenumsatz-Spielestudio nicht merken, dass ein Spiel unautorisiert vervielfältigt wurde und so unautorisiert konsumiert wird. Das hängt damit zusammen, dass Milliardenumsatz auf eine sehr breite Kaufendenschicht hinweist, die keine Piraterie betreibt. Die Kommerzialisierungsfunktion wird also realistisch kaum bis gar nicht beeinträchtigt, gleichzeitig wird auch die Bekanntheitsfunktion keine Rolle spielen, immerhin ist die schon sehr breite Kaufendenschicht durch eine kleine Gruppe an Piraterie auch kaum signifikant zu verbreitern. Weder kann bei Piraterie also ein signifikanter Nutzen, noch ein signifikanter Schaden gefunden werden.

Das lässt nun einen Schluss zu: Piraterie kann dann vertretbar sein, wenn sie das Werk eines Unternehmens betrifft, das groß genug ist, um dadurch realistisch nicht bis kaum eingeschränkt zu werden.

Interessant ist nun auch der Fall, wenn Spielestudios ihr Spiel gar nicht mehr zum Verkauf oder irgendwie auf offiziellem Wege zum Konsum anbieten. Damit erfüllt das Werk keine Kommerzialisierungsfunktion mehr. Wird das Spiel also unautorisiert konsumiert und verbreitet, gibt es eigentlich keine Funktion des Werks, die beeinträchtigt wird. Gibt es keinen offiziellen Weg, eine Kopie zu erwerben, ist Piraterie vertretbar.

Es gibt nun noch neben dieser funktionalen Betrachtung viele andere Perspektiven, die eingenommen werden können. Bspw. kann man schaffenden Personen das Recht einräumen, dass Werke nur durch von ihnen ausgewählte Konsumenten konsumiert werden dürfen - ohne jegliche Betrachtung der Funktionen ihres Werks. Das soll hier aber nicht mehr behandelt werden.
Die im gesamten Essay dargestellte Argumentation ist damit auch ungeeignet, um irgendeinen Schluss oder eine Empfehlung für ein Rechtsystem auszusprechen. Diese Argumentation hat lediglich das Ziel, Gedankenanstöße zu geben, um eine persönliche, nonjuristische Position zur Piraterie aufzubauen.


Weil ich dann noch gebeten wurde, Stellung zu nehmen:

Agu's drippy Elephant Gif

Very real, very drippy, very nice